Kameralinsen können es. Auch wir Menschen können es. Nicht nur mit den Augen. Aber wir sind uns dessen nicht immer bewusst: Das Einstellen des Blickwinkels. Ob wir uns auf einen winzigen Punkt oder das grosse Panoramabild konzentrieren, kann unsere Empfindung gänzlich ändern.
Wir kennen es aus der Werbung. Das Bild unseres Traumdomizils zeigt zwei Liegestühle links und rechts eines romantisch anmutenden Sonnenschirms, weissen Sand und ein mit dem Horizont verschmelzendes, türkisblaues Meer. Die feine Meeresbrise können wir förmlich spüren. Denn davon träumen wir seit Monaten! Die totale Erholung fernab des Rummels am einsamen Strand. Wir buchen, wir reisen und wir landen auf unserer Trauminsel. Doch hier zeigt sich: Das Bild hatte uns so einiges vorenthalten. Zwar ist da der weisse Sandstrand. Doch darauf sind noch gefühlt tausend weitere Liegestühle aufgereiht. Nichts von der ersehnten Einsamkeit. Zwar war das Traumbild keine Lüge – zwischen all den Liegestuhlreihen stehen ab und zu zwei einzelne Liegen – aber es war nur ein Teil der Wahrheit. Es ist eine Frage des Blickwinkels.
Auf die Sichtweise kommt es an
Der Blickwinkel steht sowohl für die Sichtweise auf das grosse Ganze als auch für eine Fokussierung auf einen grösseren oder eben winzigen Teilbereich. Und es steht in engem Bezug mit einer persönlichen Haltung: Möchte ich mich fixieren auf einen kleinen Punkt und mich nur auf diesen kleinen Fleck konzentrieren, oder versuche ich, auch das ganze Umfeld, den Umkreis um den Punkt zu erfassen. Die Sichtweise kann sich in ganz alltäglichen Situationen zeigen: Der Partner oder das Kind nervt. Socken sind auf dem Sofa verstreut oder ein leeres Glas steht auf dem Tisch statt im Geschirrspüler, wo es hingehört. Vielleicht sind wir gerade selber nicht in bester Stimmung, und diese Gegenstände ziehen unseren Fokus voll und ganz auf sich. Wir verbeissen uns förmlich in sie. Liebevolle Gesten oder Eigenschaften, die wir am andern mögen, sind plötzlich ausgeblendet. Alles zieht sich in uns zusammen. Wir verkrampfen uns dieses engen Fokus wegen. Stossen wir in einem solchen Moment auf Widerstand, bringt ein kleiner Tropfen das Fass zum Überlaufen. Und schon eskaliert die Situation in einen Streit.
Gelingt es uns aber, in einem solchen Moment unsere Wahrnehmungslinse zu öffnen, indem wir unser Gegenüber als den Menschen sehen, der uns nahesteht – mit seinen guten, wie auch weniger guten Seiten – bleiben wir entspannt. Keine Verkrampfung, keine Entladung. Trotzdem bewegen sich weder Socken noch Glas von selbst an ihren Platz. Doch durch die Erweiterung unseres Blickwinkels können wir ruhig und klar zum Ausdruck bringen, was uns stört und wir zu ändern wünschen. Eine ganz alltägliche Situation. Eine ganz alltägliche Entschärfung einer möglichen Eskalation durch die blosse Änderung des Blickwinkels.
Ein erweiterter Blickwinkel zeigt Chancen auf
Eine Blickwinkeländerung bringt also Entspannung, vor allem dann, wenn man ihn erweitert. Alles hängt irgendwie miteinander zusammen. Ein Tunnelblick verhindert, dass wir das erkennen. Ein offenes Ohr, ein wacher Blick und ein offenes Herz erweitern unseren Blickwinkel. Gerade in Zeiten grosser Unsicherheit, in denen wir in vielen Bereichen mit Sorgenfalten in die Zukunft blicken, hilft ein offener Blickwinkel, Zusammenhänge zu erkennen und daraus Chancen abzuleiten, die uns zuversichtlich stimmen.