Die aus dem Buddhismus stammende Praxis der Achtsamkeit wird Mainstream. Neben zahlreichen «Wunderwirkungen», die ihr zugeschrieben werden, soll uns Achtsamkeit auch vom Stress des Alltags befreien können. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen das. Doch was genau ist Achtsamkeit und lässt sich damit tatsächlich mehr Gelassenheit und Lebensfreude entwickeln?
Der Begriff «Achtsamkeit» (engl. mindfulness) hat in den letzten Jahren einen unglaublichen Boom erlebt. Auch in der Schweiz gibt es eine riesige Anzahl von Kursen rund um das Thema Achtsamkeit. Fast im Wochentakt erscheinen neue Bücher dazu. Sie versprechen Stressreduktion, mehr Geduld, mehr Entspannung, bessere Konzentration, verbesserte Beziehungen, mehr Lebensfreude und anderes mehr. Dazu kommen verschiedene Apps, die uns bei der täglichen Achtsamkeitspraxis unterstützen sollen: Jetzt mal tief durchatmen, zehn Minuten Büro-Yoga einschalten oder für ein paar Minuten meditieren.
Wie achtsam bist du?
Weisst du noch, wie der Kaffee heute Morgen geschmeckt hat? Kannst du dich an den Duft der Seife erinnern, welchen du unter der Dusche benutzt hast? Nein? Dann waren deine Gedanken wohl wo anders und dein Tun nicht achtsam. Bei den meisten geht es schon früh morgens los: Unser Autopilot schaltet sich ein und wir sind oft nicht bei dem, was gerade passiert. Unter der Dusche brauen wir uns in Gedanken bereits den Kaffee, den wir nachher trinken. Trinken wir den Kaffee, schweifen unsere Gedanken zur bevorstehenden Sitzung oder zu den Einkäufen, die wir noch zu tätigen haben. Das Gedankenkarussell dreht sich und damit das Multitasking-Hamsterrad.
Auch wird im allgemeinen Verständnis Achtsamkeit oft als Synonym für Aufmerksamkeit – im Sinne von Beobachtungsfähigkeit – verwendet. Häufig wird sie dabei mit einem unklaren Durcheinander subjektiver Moralvorstellungen vermischt oder die Beobachtungen werden gewertet: Entspricht das Handeln eines anderen nicht den eigenen Vorstellungen, wird schnell das Prädikat «unachtsam» vergeben.
Mehr Weg als Ziel
Auf den ersten Blick klingt die Achtsamkeitspraxis in den meisten Büchern und Artikeln ganz einfach: Man sollte sich einfach täglich etwa 30 Minuten in Achtsamkeit üben, indem man sich z.B. gewisser Körperempfindungen gewahr wird oder sich bewusst einer einzelnen Tätigkeit widmet. Auf diese Weise wird es leichter, den Alltagsstress und andere Belastungen hinter sich zu lassen, entspannter durch den Meeting-Marathon zu kommen oder den Stau auf der Strasse leichter zu ertragen. Vielleicht mag diese Formulierung etwas überspitzt sein, doch scheinen viele Menschen genau dieses Bild von der Achtsamkeitspraxis zu haben.
Jemand, der es besser weiss und die Grundlagen der Achtsamkeit in unserer westlichen wissenschaftsgetriebenen Industriegesellschaft eingeführt hat, ist der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn. Er definiert Achtsamkeit wie folgt: «Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren.»
Achtsamkeit ist ein Bewusstseinszustand im Hier und Jetzt, in dem der Geist klar und wach, jedoch frei von gedanklichen Wertungen ist.
Durch eine achtsame Haltung nehmen wir bewusst wahr, was im Augenblick in uns und um uns herum geschieht. Wir lernen, unsere Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen und Beobachtungen zu akzeptieren wie sie sind, egal ob sie angenehm oder unangenehm sind. Wir sind frei von Wertungen und Bewertungen. Jon Kabat-Zinn gibt zu bedenken, dass Achtsamkeit nicht einfach wie von selbst entsteht, weil es gerade wünschenswert ist, bewusster zu leben. Vielmehr bedarf es einer wirklichen Überzeugung vom Wert der Achtsamkeit und auch viel Disziplin sie zu leben. In der Achtsamkeit geht es nicht darum, ein Ziel zu erreichen, sondern sein Denken und sein Bewusstsein im Hier und Jetzt zu schärfen, und dies ein Leben lang. Es ist also mehr ein Weg als ein Ziel.
Stress als Gegner
Durch Beobachtung lernen wir verstehen, wie wir funktionieren, wie Gedanken, Körpergefühle, Stimmungen und Emotionen zusammenhängen. Eine gute Wahrnehmung dafür, was in einem selbst und im nahen Umfeld vor sich geht, ist eine Grundvoraussetzung dafür, mit Stress besser umzugehen. Stress hat viel mit Unbewusstheit und automatischen Reaktionen zu tun. Im Stressgeschehen verengt sich der Fokus zunehmend auf alles Belastende, Schwierige und Unangenehme.
Im Stressgeschehen verengt sich der Fokus zunehmend auf alles Belastende.
Die Achtsamkeitspraxis stellt hier eine natürliche Ressource dar, denn sie ermöglicht es, die Aufmerksamkeit auf die angenehmen, schönen und positiven Dinge zu richten, die parallel zur Belastung auch vorhanden sind. Wer Achtsamkeit praktiziert, macht die Erfahrung, dass das eigene Empfinden von Glück und Lebensfreude nicht von äusseren Bedingungen abhängig ist. Er entwickelt einen klaren, stabilen Geist, der es ihm erlaubt, auch in schwierigen Lebenszeiten und Situationen mit der Kraft seiner inneren Ressourcen verbunden zu bleiben.
Spiritueller Ursprung
Der Gedanke der Achtsamkeit hat seinen Ursprung im spirituellen Bereich und geht auf den legendären Buddha zurück. Eine tiefgreifende persönliche Erfahrung bewegte ihn dazu, bereits als junger Mann Familie und Heim zu verlassen, um herauszufinden, warum Menschen leiden und wie sie dieses Leid überwinden können. Seine Erkenntnisse vermittelte er im Laufe von Jahrzehnten in Predigten und Vorträgen, die bis heute überliefert sind.
Buddhismus wird heute in verschiedenen Teilen der Welt als Religion praktiziert. Bei uns in den westlichen Ländern wird er als ethische Grundlage einer ganzheitlichen Lebensphilosophie betrachtet, denn die Einsichten des Buddha sind zeitlos. Sie beziehen sich auf allgemein-menschliche Erfahrungen, die sich auch über die Jahrtausende nicht verändert haben.
Doch der Buddhismus ist nicht der einzige Ursprung der Achtsamkeit. Er liegt auch in kleineren Religionen dieser Welt, wie der indianischen Danksagungen für jede Gabe aus der Natur: Achtsamkeit ist eine Geistesdisziplin, die mehr ist als das Versprechen, sich gut zu fühlen. Sogar die Forschung, die früher einen riesigen Bogen um dieses Thema machte, hat sich der Achtsamkeit angenommen. In den verschiedenen durchgeführten Studien zeigt sich ein durchwegs positives Bild: Verbesserung der Aufmerksamkeit und kognitiven Leistungsfähigkeit, Reduktion von Stress, Angst oder Müdigkeit, besserer Umgang mit negativen Gefühlen oder chronischen Schmerzen, verbesserte Funktion des Immunsystems oder positive Effekte bei diversen psychischen Erkrankungen. Und auch die Arbeitswelt hat die Achtsamkeit für sich einzusetzen gelernt: schliesslich kann man mit verbesserter Leistungsfähigkeit auf bessere Performance hoffen.
Bye-bye Multitasking
Wir Frauen behaupten es gerne von uns. Dabei wissen es Experten längst: Weder Frauen noch Männer beherrschen das Multitasking, weil unser Gehirn das gar nicht kann. Tatsächlich strengt uns dieses Hin- und Herschalten enorm an und wir vergeuden mit dieser «Switcherei» wertvolle Energie. Das wiederum führt zu Fehlern und zu Stress. Zum einen, weil wir überfordert sind, zum andern auch deshalb, weil wir immer wieder Fehler korrigieren müssen. Das kostet letztendlich mehr Zeit, als wenn wir die Aufgaben nacheinander erledigen würden.
Unser Gehirn beherrscht
kein Multitasking.
Höhere Aufmerksamkeit auf eine Sache oder Tätigkeit stärkt die Konzentration und wir erledigen die Aufgabe leichter. Auch können wir uns später wieder besser daran erinnern, weil wir ganz «bei der Sache waren». In Gesprächen sind wir in achtsamem Zustand «ganz Ohr». Unser Vermögen Zuzuhören verbessert sich und gleichzeitig optimieren wir die Kommunikation mit andern. Unsere Gesprächspartner fühlen sich geschätzt, weil wir ihnen zuhören, was zu harmonischerem, zwischenmenschlichen Umgang führt.
Und was bedeutet das nun für unseren Alltag? Was heisst es zum Beispiel, während der Zubereitung des Morgenkaffees mit allen Sinnen präsent zu sein? Das Strecken des Armes zum Schrank, die Empfindung der kühlen, runden Kaffeedose oder der langen Kartonschachtel mit den Nespresso-Kapseln in der Hand, das frische Rauschen des Wassers aus dem Hahn und der Strom des aromatischen Kaffeeduftes in der Nase. Natürlich kommen dabei auch Gedanken auf – vielleicht an die anstehenden Aufgaben des Tages. Wer Achtsamkeit praktiziert, bemerkt das «Aufblitzen» dieser Gedanken und kehrt mit seiner Wahrnehmung zu seinem Atem und den sinnlichen Erfahrungen der Kaffeezubereitung zurück. Der Geist bleibt ruhig und klar und der Körper ist erfüllt von der Freude am Tun im gegenwärtigen Moment.